Der „Songcontest“ wie wir in Österreich sagen, geht in wenigen Tagen über die Bühne. Der Historiker Dean Vuletic gibt Einblick in die Geschichte der Musikshow.
Herr Dr. Vuletic, wie kam es dazu, dass Sie sich als Historiker mit dem Eurovision Song Contest beschäftigen? Ich bin in Australien in einem Viertel mit vielen Migrant*innen aus Südeuropa, vor allem aus Italien und Kroatien, aufgewachsen. Wir haben Italienisch in der Schule gelernt und ich habe auch gerne die italienischen Lieder beim Eurovision Song Contest angesehen. Als Historiker der Zeitgeschichte Europas habe ich erkannt, dass es keine akademische Studie über die Geschichte des Eurovision Song Contests gab und dass es notwendig war, ein wissenschaftliches Buch zu schreiben, das die Entwicklung eines der größten kulturellen Phänomene Europas erklärt.
Wieso gilt Italien als Mutterland des Song Contest, obwohl doch seine erste Ausgabe 1956 in der Schweiz über die Bühne ging? Der Eurovision Song Contest wurde nach dem Vorbild des Festival della canzone italiana di Sanremo entwickelt, das 1951 in Italien begann. Auch die Entscheidung der Europäische Rundfunkunion, den Eurovision Song Contest zu gründen, wurde ebenfalls in Italien getroffen. Es gab auch einen anderen internationalen Song Contest, den RAI in Venedig veranstaltete und der der direkte Vorläufer der Eurovision war. Stellen Sie sich vor, wir würden jedes Jahr zum Contest nach Venedig fahren! Aus technischen Gründen fand die erste Eurovision in Lugano statt.
Was waren die Motive für die RAI, der öffentlich-rechtliche Rundfunk Italiens, 1951 das Musikfestival von Sanremo aus der Taufe zu heben? Gab es vielleicht ähnliche Gründe für die Europäische Rundfunkunion, um fünf Jahre danach den Grand Prix Eurovision zu veranstalten? Die Motive der RAI bestanden darin, ein kulturelles Ereignis (damals im Radio) zu schaffen, das die Italiener vereinen würde, während es für die Europäische Rundfunkunion darin bestand, Experimente mit transnationalen Live-Fernsehsendungen durchzuführen. Seitdem wissen wir, dass sich der Eurovision Song Contest zum größten kulturellen Ereignis entwickelt hat, das die Europäer*innen vereint, so wie es das Sanremo-Festival für die Italiener*innen weiterhin tut. Für beide Identitäten ist Fußball ein weiterer großer verbindender Faktor.
Welchen Stellenwert hat in Italien ein Sieg beim Festival di Sanremo und weiß man, weshalb manchmal der*die Sieger*in beim Song Contest mit einem anderen Lied auftritt oder gar jemand anderes Italien vertritt? Der Gewinn vom Sanremo-Festival ist einer der prestigeträchtigsten Kulturpreise in Italien, da er den Gewinner*innen massive öffentliche Aufmerksamkeit und Medienpräsenz verschafft. Denken Sie auch daran, dass das Ergebnis teilweise auf eine öffentliche Abstimmung zurückzuführen ist. Den Gewinner*innen wird die erste Option angeboten, beim Song Contest teilzunehmen, aber wenn sie die ablehnen, wird der*die Zweitplatzierte gefragt. Sie können das Lied für die Eurovision auch ändern, aber normalerweise behalten sie das Gewinnerlied vom Sanremo-Festival.
Von den 1990er-Jahren bis 2011 blieb Italien dem ESC beinahe zwei Jahrzehnte fern. Wie kam es zu seiner Rückkehr und wie schlägt sich das Land im Vergleich mit Nachbarländern wie Kroatien, Frankreich und Österreich? RAI zog sich von 1998 bis 2010 aus dem Song Contest zurück, da die Zuschauer*innenzahlen gering geworden waren – die Italiener*innen verloren das Interesse an der Eurovision. Aber es passiert oft bei Ländern, dass sie Wellen des Interesses oder des Desinteresses für den Song Contest durchlaufen, genau wie in Österreich vor und nach dem Sieg von Conchita Wurst. Aber Italien war in den letzten zehn Jahren durchwegs eines der erfolgreichsten Länder beim Song Contest und sicherlich viel mehr als seine Nachbar*innen: Nur hat das Nachbarland Österreich auch im letzten Jahrzehnt die Eurovision gewonnen.
Was war aus Ihrer Sicht ausschlaggebend, dass Italien 1964, 1990 und 2021 gewonnen hat? Ich denke, dass jedes dieser Lieder den Zeitgeist widerspiegelte. So 1964 das Siegerlied „Non ho l’età“ von Gigliola Cinquetti, in dem es um eine junge Frau geht, die sich verliebt: Es spiegelt die sexuelle Befreiung in Europa wider. 1990 war es Toto Cutugno mit „Insieme: 1992“, der über die europäische Integration im Kontext des gerade zu Ende gegangenen Kalten Krieges sang. Und vergangenes Jahr das Lied „Zitti e buoni“ von Måneskin, das sich rebellisch und sexy anfühlte, zwei Gefühle, die im Kontext der Einschränkungen der Pandemie herauskommen mussten.
Wer noch mehr wissen möchte, kann am 11. Mai, 18:00 bis 19:00 Uhr im Webinar mit Dean Vuletic noch mehr über den ESC erfahren: https://www.vhs.at/de/k/273598901