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WISSENSCHAFTSblog

21.04.2020

Warum die tägliche Anzahl der Toten so ungewöhnlich wichtig für das Verständis der Coronavirus-Pandemie ist

Celine Wawruschka

Je länger die Regierungsmaßnahmen aufgrund der durch das Coronavirus ausgelösten Pandemie andauern, desto mehr verbreiten sogenannte alternative Medien und selbsternannte Experten zweifelhafte Fakten und vermeintliches Wissen. An dieser Stelle informieren wir Sie einmal wöchentlich über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Coronavirus. Die Informationen stammen aus dem Newsletter aus Nature, einer der weltbesten wissenschaftlichen Zeitschriften, die seit 1869 veröffentlicht wird. Die Inhalte sind zusammengefasst und ins Deutsche übersetzt, unter jedem Blogbeitrag findet sich der Link zu den englischsprachigen Originalveröffentlichungen.


Die vergangene Woche stand für viele von uns ganz im Zeichen von Zahlen und Zählungen: Wie viele COVID-19-Tests wurden durchgeführt? Wie viele Neuerkrankungen gibt es, wie viele Verstorbene – und wie viele Menschen sind wieder genesen? Und vor allem: Wie kommt man zu diesen Zahlen und wie wird gezählt? In der heutigen Zusammenfassung eines Beitrags aus Nature möchten wir Einblicke in die Zählweise der Epidemiologen geben.

Wie eine ungewöhnliche Viruserkrankung auf ungewöhnliche Weise gezählt wird

COVID-19 unterscheidet sich von anderen viralen Epidemien der letzten Jahre: Es ist weiter verbreitet als SARS (schweres akutes Atemwegssyndrom), ansteckender als die saisonale Grippe und es hat mehr Menschen getötet als Ebola. Und es unterscheidet sich in der Art und Weise, wie Epidemiologen seine Ausbreitung verfolgen. Anstatt sich auf die Zahl der Infizierten zu verlassen oder dem Verhältnis von Toten zu Infizierten – die Sterblichkeitsrate –, sind es die täglichen Todeszahlen im Zusammenhang mit COVID-19, die die Wissenschaftler als Grundlage heranziehen, um die Auswirkungen der Krankheit zu beobachten und entsprechende Maßnahmen zu empfehlen.

Diese Art der Zählung ist ergibt sich einerseits aus der Tatsache, dass in vielen Ländern noch zu wenig getestet wird. Zum anderen zeigt ein guter Teil der Infizierten keinerlei Symptome – man muss also von einer Dunkelziffer ausgehen, die es schwierig macht, die Zahl der Infizierten zu bestimmen, selbst bei ausreichendem Vorhandensein von Tests. Und bislang ist es nur möglich, COVID-19 im akuten Stadium mittels eines PCR-Tests nachzuweisen. Antikörpertest, deren Ergebnis verlässlich belegt, dass die Krankheit bereits durchgestanden ist, sind noch in der Entwicklungsphase.

COVID-19 ist für die meisten Menschen nicht tödlich; die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht von einer Sterblichkeitsrate von 3,4% für nachweislich Infizierte aus, wobei die Sterblichkeitsrate mit dem Alter und einigen Risikofaktoren variiert. Die tägliche Anzahl der Toten informiert zurzeit am besten über die Ausbreitung und die Wirksamkeit von Maßnahmen. Wenn die tägliche Anzahl von Verstorbenen abzunehmen beginnt, so ist das ein gutes Zeichen, dass der Höhepunkt des Krankheitsausbruches überschritten ist. Die tägliche Anzahl der Verstorbenen ist auch wichtig für die Einschätzung von benötigter medizinischer Versorgung.

Auf dieser Grundlage wurde auch die Anzahl der benötigten Spitalbetten und Beatmungsgeräte von einem Team der Washington Universität in Seattle in den USA hochgerechnet. Dass diese Hochrechnungen, die auch Präsident Trump als Grundlage für die Regierungsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 heranzog, fehlerhaft waren, kann mehrere Gründe haben. Theo Vos, Epidemiologe an der Washington Universität, geht davon aus, dass zum Zeitpunkt der Hochrechnungen zu wenige Verstorbene als COVID-19-Tote gezählt worden sind. Als Grund dafür gibt er an, dass die tägliche Zahl der Verstorbenen immer wieder Nachhinein korrigiert werden musste, da die Zahlen aus den einzelnen Krankenhäusern und Pflegeheimen aus dem gesamten Gebiet der USA nicht zeitgerecht eintrafen.

Begrenzte Vergleichbarkeit

So schwierig das Zählen der täglich Verstorbenen in einem Land ist, so begrenzt sind die Möglichkeiten, diese Zahlen zwischen Ländern zu vergleichen. Als die Todeszahlen in Italien Mitte März zu steigen begannen, wunderte man sich in Europa über die relativ geringe Anzahl von Todesopfern in Deutschland, die damals noch etwa ein Dutzend betrug. Der italienische Gerontologe Graziano Onder des italienischen nationalen Gesundheitsinstituts (Istituto Superiore di Sanità: ISS) in Rom machte dafür die Tatsache verantwortlich, dass ein großer Teil der Bevölkerung Italiens über 65 Jahre alt sei. Auch die Tatsache, dass jeder, der positiv auf COVID-19 getestet worden war und gestorben ist, in Italien zu den Opfern der Pandemie gezählt wurde, könnte für die wesentlich höheren Opferzahlen verantwortlich sein. Andere Quellen erwähnen die Umweltverschmutzung insbesondere der im Norden Italiens gelegenen Regionen, die auch die größte Zahl von Toten zu beklagen hatten.[2]

In den Schwellen- und Entwicklungsländern, in denen die Kapazitäten im Gesundheitswesen begrenzt sind, muss davon ausgegangen werden, dass eine beträchtliche Anzahl an Toten nicht gezählt wird, weil diese nicht in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung, sondern zuhause verstorben sind. Prabhat Jha, ein Epidemiologe an der Dalla Lana School of Public Health an der Universität Toronto in Kanada erklärt, dass es Werkzeuge gibt, um diese Zahl zu schätzen. Einerseits bietet sich der Vergleich mit der Anzahl der Verstorbenen mit zurückliegenden Daten an: Man könnte als die Gesamtzahl der Toten an einem bestimmten Tag mit jener aus exakt einem Jahr davor vergleichen. Doch Jha hat noch ein weiteres Zählungsmittel eingeführt, das gerade in ärmeren Ländern zum Einsatz kommen könnte: die „mündlichen Autopsien“. Zwischen 1997 und 2013 befragten Jha und sein Team eine halbe Million Hinterbliebene in Indien, um auf diese Weise die Todesursachen, die bislang nicht aufgenommen worden waren und somit auch in der offiziellen Statistik fehlten, festzumachen.[3] Jha hat bereits die indische Regierung kontaktiert, um die Teams der „mündlichen Autopsien“ wieder auf den Plan zu bringen und die andernfalls undokumentierten Todeszahlen im Zusammenhang mit COVID-19 zu erfassen.

Was lernen wir aus diesen Untersuchungen? Es zeigt sich, dass die Zählung der täglich Verstorbenen innerhalb eines Landes nicht immer verlässlich für Hochrechnungen ist – hier kommt es in den Industrieländern vor allem auf das Zusammenspiel sämtlicher medizinischer Einrichtungen und Pflegeeinrichtungen sowie staatlicher Institutionen an, die statistische Daten erfassen und veröffentlichen. In ärmeren Ländern hingegen stellt die Erfassung von COVID-19-Verstorbenen ein wesentlich größeres infrastrukturelles Problem dar. Hier könnten die Zahlen der täglich Verstorbenen eine so große Dunkelziffer ausmachen, dass es schwierig sein wird, den Ausbreitungsgrad des Virus einzuschätzen. Diese beiden Beispiele verdeutlichen aber auch, wie begrenzt der internationale Vergleich der Zahlen von Menschen ist, die an COVID-19 verstorben sind.

Link zum Originalartikel hier.

[1] Nidhi Subbaraman, Why daily death tolls have become unusually important in understanding the coronavirus pandemic, Nature, 9. April 2020, doi: 10.1038/d41586-020-01008-1 (letzter Zugriff am 15.04.2020).
[2] Aarhus University. "Link between air pollution and coronavirus mortality in Italy could be possible." ScienceDaily, ScienceDaily, 6. April 2020: <www.sciencedaily.com/releases/2020/04/200406100824.htm>.

[3] Erica Westly, Global health: One million deaths, Nature 504/7478, 2013, 22–23, doi:10.1038/504022a.


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