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WISSENSCHAFTSblog

29.04.2020

Was ein Ferrari mit der künstlichen Beatmung von COVID-19-Patienten zu tun hat

Celine Wawruschka

Je länger die Regierungsmaßnahmen aufgrund der durch das Coronavirus ausgelösten Pandemie andauern, desto mehr verbreiten sogenannte alternative Medien und selbsternannte Experten zweifelhafte Fakten und vermeintliches Wissen. An dieser Stelle informieren wir Sie einmal wöchentlich über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Coronavirus. Die Informationen stammen aus dem Newsletter aus Nature, einer der weltbesten wissenschaftlichen Zeitschriften, die seit 1869 veröffentlicht wird. Die Inhalte sind zusammengefasst und ins Deutsche übersetzt, unter jedem Blogbeitrag findet sich der Link zu den englischsprachigen Originalveröffentlichungen.

Der Beitrag dieser Woche über den Einsatz von Beatmungsgeräten steht wieder im Zeichen der Zahlen. Denn weltweit wurden zu Beginn der Pandemie neben der Bettenanzahl auf Intensivstationen vor allem die Zahl verfügbarer Beatmungsgeräte herangezogen, um die Belastbarkeitsgrenzen der Gesundheitssysteme zu berechnen. Neueste Erkenntnisse zum Einsatz von Beatmungsgeräten könnten allerdings zu einer Neubewertung dieser anfänglichen Überlegungen führen.

Mit den ersten Erfahrungswerten der COVID-19-Infektion überdenken Ärzte den voreiligen Einsatz von Beatmungsgeräten [1]

Als der 48-jährige Arzt Andre Bergmann eine COVID-19-Diagnose erhielt, wusste er sofort, in welches Krankenhaus er sich einweisen lassen wollte: in das Bethanien-Krankenhaus in Moers in Nordwestdeutschland. Denn dessen Lungenklinik ist dafür bekannt, Beatmungsgeräte nur sehr zurückhaltend einzusetzen. Obwohl Bergmann bald nach seiner Einweisung große Schwierigkeiten mit dem Atmen hatte, wurde er nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Eine Woche später konnte er das Krankenhaus verlassen.

Zu Beginn der Corona-Pandemie gaben einige Regierungen Großbestellungen von Beatmungsgeräten auf, gleichzeitig bemühten sich Ingenieure weltweit um alternative Modelle in Eigenbauweise, um Engpässen vorzubeugen. Diese Modelle in Eigenbauweise bauten auf bereits bestehende Technologien auf, etwa aus der Autoindustrie oder der Staubsauger-Erzeugung.

Reuters [2] befragte in einer Interviewreihe 30 Ärzt*innen und Mitarbeiter*innen des Gesundheits- und Pflegepersonals unter anderem aus China, Italien, Spanien, Deutschland und den USA nach ihren Erfahrungen mit dem Einsatz von Beatmungsgeräten. Obwohl nahezu alle Befragten übereinstimmten, dass Beatmungsgeräte wichtig sind und Leben retten, hoben sie die Risiken hervor, sollten Beatmungsgeräte zu früh oder zu oft oder von für diese Tätigkeit ungeschultem Personal in überfüllten Krankenhäusern eingesetzt werden.


Beatmungsgeräte

Viele Formen der Beatmung funktionieren über Masken. Für den Einsatz von Beatmungsgeräten ist es jedoch notwendig, die Patienten zu intubieren, das heißt, dass ihnen eine Röhre über den Mund eingeführt wird, über die Luft in die Lungen gepumpt wird. Dazu müssen die Patienten schwer sediert werden, um ihre Atmungsmuskulatur davon abzuhalten, gegen die Maschine anzukämpfen.

Patienten, die unter Sauerstoffunterversorgung gelitten haben und zwei bis drei Wochen intubiert an ein Beatmungsgerät angeschlossen waren, hatten in der Regel eine Überlebenschance von 50 Prozent. Für COVID-19-Patienten liegt diese Chance allerdings unter 50 Prozent. In der Intensivstation in Wuhan, China, wo die Pandemie ausgebrochen ist, überlebten 86 Prozent von 22 Patienten nicht, die an Beatmungsgeräte angeschlossen waren. Im Vereinten Königreich starben es zwei Drittel und eine Studie aus New York belegte 88 Prozent von 320 COVID-19-Patienten, die verstarben, nachdem sie an ein Beatmungsgerät angeschlossen waren.

Patient Bergmann, der nach der überstandenen COVID-19-Infektion von sich selbst sagte, dass es einen Moment lang leichter gewesen wäre, aufzugeben, hätte er nicht Frau und Kinder gehabt, wurden lediglich Morphin und eine Sauerstoffmaske verabreicht.


Veränderungen an der Lunge

Li Susheng, Leiter der Intensivstation des Tonji- Krankenhauses der Huazong-Universität in Wuhan, erklärte, dass sich der Zustand einiger Patienten nach dem Anschließen an Beatmungsgeräte nicht verbessert hatte. Darüber hinaus merkte er an, dass die Krankheit die Lungen dieser Patienten über seine Vorstellungsmöglichkeiten hinaus verändert hatte. Das bestätigt auch Luciano Gattinoni, Gastprofessor an der Universität Göttingen und renommierter Experte für Beatmungsgeräte: „Als ich die erste CT-Aufnahme sah, erkannte ich, dass das nichts damit zu tun hatte, was wir in den letzten 40 Jahren gesehen hatten.“Zusammen mit anderen Ärzten in Italien berichtete Gattinoni in einer Studie, dass eine COVID-19-Infektion nicht zu den „typischen“ Atemproblemen führe. Die Lungen der Patienten würden besser arbeiten als etwa im Falle eines akuten Atemnotsynsdroms bzw. Lungenversagens, und sie wären elastischer. Künstliche Beatmung sollte demnach mit einem geringeren Druck als üblich ausgeführt werden. Denn – so Gattinoni – würde man einen COVID-19-Patienten behandelt wie einen Patienten, der an einem akuten Atemnotsyndrom leidet, so wäre das, als ob man mir einem Ferrari zum Geschäft an der Ecke fahre, noch einmal extra auf das Gaspedal tritt und dann die Scheibe einschlägt. [3]

Doch nicht alle Ärzte teilen diese Meinung. So ist etwa Mario Riccio, Leiter der Anästhesie im Oglio-Po-Krankenhaus (Ospedale Oglio Po) nahe Cremona – jener Region Italiens, die am stärksten von der Pandemie betroffen war – der Ansicht, dass Beatmungsgeräte die einzige Möglichkeit sind, Patienten mit schweren Symptomen zu behandeln, auch, wenn einige sterben. Yoram Weiss, Direktor des Hadassah Ein Kerim Medical Centers in Jerusalem, stimmt hier überein: „Es ist sehr wichtig, die Patienten zu beatmen, bevor sie kollabieren.“ In seinem Krankenhaus wurden 24 von 223 Patienten an Beatmungsgeräte angeschlossen. Vier von ihnen sind gestorben, drei atmen bereits wieder selbstständig.


Mikro-Tröpfchen (Aerosole) und „glückliche Lungenversager“ („Happy Hypoxics“)

Eine einfachere Form der Beatmung – auch in der Handhabung – funktioniert über Masken. Doch Beatmungsmasken geben mitunter Mikro-Tröpfchen, sogenannte Aerosole, frei, die die COVID-19-Infektion übertragen könnten. Aus diesem Grund vermeiden manche Ärzte Beatmungsmasken.

Thomas Voshaar, Vorstand der Lungenfachklinik, der auch Andre Bergmann behandelte, erklärte, dass die meisten Ärzte durch COVID-19 verursachte Lungenprobleme auf herkömmliche Weise behandelten. Ein gesunder Mensch weist in eine Sauerstoffsättigung von ca. 96 Prozent in seinem Blut auf. Sollte diese Sauerstoffsättigung geringer sein und damit auf ein Lungenversagen hinweisen, würden viele Ärzte überreagieren und zu Beatmungsgeräten greifen. Doch auch mit einer Sauerstoffsättigung von 80 Prozent könnte ein Patient noch essen und trinken und am Bettrand sitzen, auch wenn er sich dabei nicht großartig fühlt.

Diese Erfahrung teilen auch Ärzte in New York, die diese Patienten als „happy hypoxics“ („Menschen mit Lungenversagen, die dennoch glücklich sind“) bezeichnen. Aus diesem Grund suchen die Ärzte nach Alternativen zum Beatmungsgerät. Eine dieser Alternativen wird als „proning“ („auf dem Bauch liegen“) bezeichnet, wie Scott WEingart, Vorstand der Intensivstation am Stony Brook Medical Center in Long Island erklärt: Die Patienten werden über die Seite in die Bauchlage gerollt. Durch die Bauchlage werden Flüssigkeiten in der Lunge nach vorne verlagert und die Lunge kann sich so besser ausdehnen. Mit dieser Methode erzielten sie bereits beeindruckende Ergebnisse. Erst wenn ein Patient Zeichen von Verwirrung oder einer Überreaktion des Immunsystems („Zykotinsturm“) bzw. schwere Atemnot aufweist, würden sie als letztes Mittel an ein Beatmungsgerät angeschlossen. „Happy Hypoxics“ sollten jedoch niemals an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden.


Qualität und Erfahrung

Neben der bereits erwähnten Schulung, die notwendig ist, um einen Patienten an ein Beatmungsgerät anzuschließen, zeigte sich in den letzten Wochen noch ein anderes Problem. Viele Ärzte befürchten, dass eilig produzierte Geräte nicht den technischen Standards entsprechen bzw. nur für den Gebrauch in Ambulanzen, nicht jedoch für Intensivstationen angefertigt worden sind. Letzteres war beispielsweise in Spanien der Fall, wo Ärzte in einem Schreiben die Regierung darüber informierten. Im Vereinigten Königreich wurde eine Großbestellung von Beatmungsgeräten aus demselben Grund storniert.

Was lernen wir aus diesen Untersuchungen? Einmal mehr zeigt sich die Neuartigkeit des Coronavirus, dessen schwerer Verlauf mit massiven Lungenproblemen verbunden ist, die in der Regel mit Beatmungsgeräten behandelt werden. Erst mit den Erfahrungswerten der ersten Wochen können Ärzte nun ihre Behandlungsweise von COVID-19-Patienten mit schwerem Verlauf hinterfragen und anpassen. Doch ist dieser Aspekt nur einer von vielen, die der medizinischen Fachwelt im Zusammenhang mit dem Coronavirus neu ist. Und das gilt es in den bevorstehenden Lockerungen der Corona-Maßnahmen nächste Woche in der alltäglichen Praxis der „neuen Normalität“ zu bedenken.

Der Beitrag dieser Woche wurde durch den Newsletter von Nature verlinkt, er stammt aus der Fachzeitschrift Health News. Link zum Originalartikel hier.

Auch wenn die Häuser der Wiener Volkshochschulen seit Mitte März geschlossen bleiben müssen, möchten wir dennoch unserem Bildungsauftrag nachkommen. In etwas adaptierter Form, nämlich via Facebook und Blogs auf unseren Homepages, und vielleicht mit einem bisserl ungewöhnlichen Ansatz. So werden Barbara Rosenberg mit einem Buchtipp, Brigitte Neichl mit einem „historischen Geheimnis“ rund um die Urania, Celine Wawruschka mit neuesten Informationen aus dem Wissenschaftsbereich zum Thema Corona, Mario Lackner und Willy Bottemer zum Thema Lebensfreude regelmäßig in Erscheinung treten.

Doris Zametzer, Direktorin VHS Wiener Urania und VHS Landstraße

[1] S. Aloisi, D. Beasley, G. Borter, T. Escritt und K. Kelland, Special Report: As virus advances, doctors rethink to rush to ventilate, Health News, 23. April 2020.
[2] Die Verlagskette, Anm. der Redaktion.
[3] L. Gattinoni, S. Coppola, M. Cressoni, M. Busana, S. Rossi und D. Chiumello, Covid-19 does not lead to a “typical” Acute Respiratory Distress Syndrome, American Journal of Respiratory and Critical care Medicine, Vorabdruck, 30. März 2020, https://doi.org/10.1164/rccm.202003-0817LE.