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WISSENSCHAFTSblog

Welche Maßnahmen gegen das Coronavirus waren am erfolgreichsten?

13.05.2020

Celine Wawruschka

Je länger die Regierungsmaßnahmen aufgrund der durch das Coronavirus ausgelösten Pandemie andauern, desto mehr verbreiten sogenannte alternative Medien und selbsternannte Expert*innen zweifelhafte Fakten und vermeintliches Wissen. An dieser Stelle informieren wir Sie einmal wöchentlich über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Coronavirus. Die Informationen stammen aus dem Newsletter aus Nature, einer der weltbesten wissenschaftlichen Zeitschriften, die seit 1869 veröffentlicht wird. Die Inhalte sind zusammengefasst und ins Deutsche übersetzt, unter jedem Blogbeitrag findet sich der Link zu den englischsprachigen Originalveröffentlichungen.

Der Beitrag dieser Woche beschäftigt sich mit den Maßnahmen, die in verschiedenen Ländern zur Eindämmung des Coronavirus vollzogen worden sind. Welche Strategien waren erfolgreich und vor allem wann? Elizabeth Gibney gibt in ihrem Beitrag eine Übersicht und einen Ausblick darüber, wie mathematische Modelle herangezogen werden, um diese Fragen beantworten zu können. [1]
Forscher*innen untersuchen unterschiedliche Eindämmungsmaßnahmen

Hongkong hat der Welt gezeigt, wie man den Ausbruch von COVID-19 effizient eindämmen kann. Mit einer Einwohnerzahl von 7,5 Millionen Menschen kam die Stadt auf nur vier Menschen, die an einer COVID-19-Infektion gestorben sind. Forscher*innen, die Hongkongs Maßnahmenpaket untersucht haben, fanden heraus, dass prompte Überwachung, Quarantäne, räumliche Distanzierung („social distancing“), das Tragen von Gesichtsmasken und das Schließen der Schulen hat geholfen, die Ausbreitung des Coronavirus anzuhalten. Bereits Anfang Februar war die Reproduktionszahl R – also die durchschnittliche Menge an Menschen, die ein Erkrankter ansteckt – nur noch knapp über 1. Doch einem Forschungsartikel zufolge, der im April 2020 veröffentlicht wurde, konnte man nicht unterscheiden, welche der verschiedenen Maßnahmen für diesen Erfolg verantwortlich war. [2]

Eines der großen Forschungsanliegen im Zusammenhang mit dem Coronavirus ist es, die Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen, die weltweit zur seiner Eindämmung vollzogen werden, abzuklären. Wissenschaftler*innen hoffen nach dieser Abklärung in der Lage zu sein, sehr genau voraussagen zu können, welchen Einfluss die Einführung oder das Weglassen einer Maßnahme auf Übertragungsraten und Infektionszahlen nehmen wird. Schließlich können Regierungen auf der Grundlage solcher Informationen Strategien entwickeln, wann und wie sie zum normalen Alltag zurückkehren, ohne eine weitere Ansteckungswelle zu riskieren. „Es geht hier nicht um die Pandemie“, erklärt Rosalind Eggo, die mathematische Modelle an der London School of Hygiene and Tropical Medicine (LSHTM) rechnet, „es geht um die Frage, was als nächstes zu tun ist.“

Während die ersten mathematischen Modelle zur Ausbreitung des Coronavirus zu Beginn der Pandemie noch auf Annahmen beruhten [3], arbeiten Wissenschaftler*innen nun bereits an Modellen, die auf Daten einzelner Länder basieren. Theoretisch sollte ein Vergleich der Maßnahmen und der Resultate zwischen den Ländern einen Rückschluss zu deren Wirksamkeit erlauben. Praktisch stellt diese Untersuchung jedoch eine große Herausforderung dar. Denn zum einen sind die Umstände in jedem Land anders, zum anderen besteht eine gewisse Unsicherheit darüber, wie viele Menschen sich tatsächlich an die beschlossenen Maßnahmen halten.

Das Wiener Forschungsteam hat rund 170 verschiedene Maßnahmen in 52 Ländern aufgenommen. Dazu zählen „kleine Maßnahmen“ wie etwa das Anbringen von Markierungen am Boden, um einen Zwei-Meter-Abstand zu zeigen, und „große Maßnahmen“, wie das Schließen von Schulen. Gleichzeitig verfolgen die Wiener Forscher*innen die Lockerungen der COVID-19-Restriktionen verschiedener Länder und die damit einhergehenden Maßnahmen, wie etwa dem verpflichtenden Tragen von einem Mund-Nasen-Schutz.

Das Team in Oxford, das am sogenannten COVID-19 Government Response Tracker arbeitet, beobachtet 13 Maßnahmen in über 100 Ländern. Dabei werden sieben von den 13 Maßnahmen einem einzigen „Stringenz“-Index zugerechnet, der es erlaubt, den Erlog einer Maßnahme einzuordnen und mit anderen Maßnahmen in anderen Ländern zu vergleichen.

Vereinheitlichung der Ergebnisse

Zurzeit stellt ein Team an der London School of Hygiene and Tropical Medicine eine Datenbank über Eindämmungsmaßnahmen und deren Auswirkungen für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zusammen. Diese Datenbank übernimmt teils schon Informationen von zehn anderen Forschungsteams, darunter die Universität Oxford, das Complexity Science Hub Vienna (CSH Vienna) sowie staatliche Gesundheitsbehörden und Non-Profit-Organisationen wie ACAPS, eine Gesellschaft, die sich auf die weltweite Analyse von Krisenherden spezialisiert hat.
In der neuen Datenbank werden die Informationen vereinheitlicht, sodass man sie miteinander vergleichen kann. Agenturen wie die WHO sammeln zwar in der Regel Daten zum Ausbruch von Krankheiten, doch Ausmaß und Schnelligkeit der COVID-19-Pandemie verkomplizieren die übliche Routine. Mehr als 1.100 Freiwillige arbeiten an der London School of Hygiene and Tropical Medicine mit, die weltweiten Daten zu vereinheitlichen. Die Datenbank, die so entsteht, wird allgemein öffentlich zugänglich sein und ständig aktualisiert werden.

Länder-Cluster

Bereits beide Forschungsteams haben begonnen ihre gesammelten Daten auszuwerten. Das Wiener Team untersucht Muster, indem es Länder in einem Cluster danach zusammenfasst, wie früh sie ihre COVID-19-Maßnahmen verhängt haben und wie viele Maßnahmen sie durchgesetzt haben. So zeichnet sich beispielsweise in Europa ein Cluster mit Schweden, dem Vereinigten Königreich und den Niederlanden ab, eben jenen Ländern, die sehr langsam reagiert haben. In den ersten Wochen des pandemischen Ausbruchs verfolgten sie die Strategie der „Herdenimmunisierung“ und ordneten nur wenige Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus an bzw. sprachen nur Empfehlungen zur Einhaltung von Maßnahmen aus. Das Vereinigte Königreich und die Niederlande änderten jedoch im weiteren Pandemie-Verlauf ihre Strategie und setzten striktere Eindämmungsmaßnahmen durch.

Im Vergleich zu Italien, Frankreich und Spanien, die erst sehr viel später ähnlich rigide Maßnahmen ergriffen, ragen Deutschland und Österreich mit ihrer sofortigen und strikten Vorgehensweise, die sich vor allem durch einen Lockdown ausgezeichnet hat, heraus. Aufgrund dieser Vorgehensweise verzeichnen Österreich und Deutschland nur einen Bruchteil der Todesfälle der erstgenannten Länder.

Erste Erkenntnisse des Oxforder Teams belegen, dass ärmere Staaten eher zu strikteren Maßnahmen tendieren als reichere, verglichen mit der Schwere des Ausbruchs. So verfügte der karibische Staat Haiti beispielsweise mit dem ersten Todesfall eine Ausgangssperre, während die USA mehr als zwei Wochen nach ihrem ersten Corona-Todesfall zuwarteten. „Das kann zwei Gründe haben“, sagt die Politikwissenschaftlerin Anna Petherick: „Entweder handeln Länder mit geringerem Einkommen und einem weniger gut entwickelten Gesundheitssystem vorsichtiger. Oder aber sie haben ausreichend Zeit gehabt die Maßnahmen anderer Länder zu beobachten, da der Ausbruch in vielen der ärmeren Ländern zu einem erheblich späteren Zeitpunkt begonnen hat.“

Muster und Vorhersagen

Das ultimative Ziel dieser großen, neuen Datenbank an der London School of Hygiene and Tropical Medicine ist es jedoch nicht, die Effekte von Maßnahmen rückblickend zu betrachten, sondern sie als unmittelbares Entscheidungswerkzeug bei einem neuerlichen Ausbruch einzusetzen. So sollten Wissenschaftler*innen idealerweise in der Lage sein, vorauszusehen, welche Maßnahmen zu einer Reduktion der Infektionszahlen führen. „Derartige Vorhersagen könnten in der Folge ein Entscheidungswerkzeug für Politiker darstellen, zusammen mit der Verfügbarkeit von Betten in Intensivstationen“, erklärt Nils Haug, Mathematiker am CHS Wien und an der Medizinischen Universität Wien.

Haug ist Mitglied eines 15-köpfigen Teams, das sich mit der Auswahl des statistischen Zugangs bei der Berechnung der Modelle zur Vorhersage beschäftigt. Anstatt die exakte Auswirkung einer einzelnen Maßnahme aufzuzeigen, können statistische Methoden dazu verwendet werden, jene Maßnahmen herauszufiltern, die eine Vorhersage am besten zulassen. Eine Möglichkeit ist hier eine Technik des Maschinenlernens, das sogenannte „wiederkehrende neurale Netzwerk“, das von Mustern in Daten lernt und daraus Vorhersagen generiert. So können Forscher*innen die Wichtigkeit einer Maßnahme bestimmen, indem sie diese Maßnahme in diesem Netzwerk verschieben oder entfernen.

Eine andere Methode ist die sogenannte Regressionsanalyse, die die Stärke der Beziehung zwischen einer Maßnahme, wie beispielsweise dem Schließen von Schulen, und einer Zahleneinheit, wie etwa R (der Reproduktionszahl), bewertet. Durch die Anwendung einer Regressionstechnik wie etwa der Lasso-Methode können Wissenschaftler*innen herausfinden, welche Maßnahme R am meisten reduziert.

„Aber alle diese Methoden haben ihre Grenzen“, sagt Haug. Die Lasso-Methode geht davon aus, dass eine vorgegebene Maßeinheit immer zu derselben Verminderung von R (der Reproduktionszahl) führen wird, ungeachtet dessen, in welchen Land sie angewandt wird. Das ist eine der größten Herausforderungen in der Auswertung der Maßnahmenpakete verschiedener Länder. Denn die Forscher*innen wollen sehr wohl die Möglichkeit haben, nationale Eigenheiten zu berücksichtigen, wie beispielsweise einen größeren Trend zu Mehrgenerationenhaushalten, die eine virale Ausbreitung begünstigen können. Das Wiener Team plant, in Zukunft diese verschiedenen Aspekte in seine Modelle mit einzubeziehen. Im Moment fasst es diese Aspekte alle als eine einzige Variable zusammen, die die Reproduktionszahl R für jedes Land verändert.

Ohne Impfstoff oder medikamentöser Behandlung gibt es keine andere Möglichkeit, die Ausbreitung von COVID-19 zu stoppen. Die Auswirkungen jeder einzelnen Maßnahme zu kennen ist wesentlich, um entscheiden zu können, welche Maßnahme gelockert oder aufgehoben werden kann.

Link zum Originalartikel hier.

Quellen:

[1] Elizabeth Gibney, Whose coronavirus strategy worked best? Scientists hunt most effective policies, Nature 581, 15–16 (2020), doi: 10.1038/d41586-020-01248-1.

[2] Benjamin J. Cowling und andere, Impact assessment of non-pharmaceutical interventions against coronavirus disease 2019and influenza in Hong Kong an observational study, Lancet Public Health 5 (2020) 279–288, doi.org/10.1016/S2468-2667(20)30090-6.

[3] David Adam, Special report: The simulations driving the world’s response to COVID-19, Nature 580, 316–318 (2020), doi: 10.1038/d41586-020-01003-6.

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Doris Zametzer, Direktorin VHS Wiener Urania und VHS Landstraße