Nationalsozialismus und Volkshochschulen
Erforschung der Geschichte der VHS im Nationalsozialismus
In einem Projekt des Österreichischen Volkshochschularchivs, der VHS Hietzing und dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) wurde die Geschichte der Vortragenden und FunktionärInnen der Wiener Volkshochschulen während des NS-Regimes untersucht. Die Gesamtzahl der bis dato eruierten Opfer beläuft sich auf 453 Personen. Diese 453 Personen stehen für 9.171 Kurse und Vorträge. Als Opfer wurden dabei Personen gewertet, die sich unmittelbar nach dem sogenannten „Anschluss“ im März 1938 das Leben genommen haben (11 Personen), die vor den Nazis ins Exil fliehen konnten (332 Personen) sowie jene, die deportiert und ermordet wurden (111 Personen). Die bisherigen Ergebnisse werden in einer Ausstellung, die zehn Tafeln umfasst, präsentiert.

VHS internationale Vorreiterin im Bereich der Opferforschung
„Die Praxis der Volkshochschulen nach 1945 hat deutlich gemacht, dass diese Bildungsinstitution kein Ort des Verdrängens ist. Im Gegenteil haben die Volkshochschulen die zeitgeschichtliche Diskussion in Österreich lange vor Etablierung der universitären Fachdisziplin mitinitiiert und befeuert. Auf die eigenen Opfer haben die Volkshochschulen jedoch bisher kaum Augenmerk gelegt“, so Dr. Christian H. Stifter, Historiker und Direktor des Österreichischen Volkshochschularchivs. „Ohne die Zusammenarbeit mit dem Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes wäre diese erste Dokumentation nicht möglich gewesen. Immerhin wurden die umfangreichen Dateneinträge des Volkshochschularchivs – in Summe 8442 Datensätze – mit den Opfer-Datenbanken des Dokumentationsarchives abgeglichen.“
Wenngleich dieses Forschungsprojekt spät gestartet wurde, sind die Wiener Volkshochschulen im europäischen Vergleich bis dato die einzige großstädtische Erwachsenenbildungseinrichtung, die die Zahl ihrer Opfer kennt.
Die Arbeit geht weiter
Die Arbeit ist aber bei weitem nicht abgeschlossen. Das Ziel des Projekts ist die Erstellung eines Opfer-Handbuchs mit Kurzbiografien. „Die Tafeln erzählen noch keine Geschichten. In manchen Fällen haben wir beispielsweise nur ein Bild eines Haustores, durch das eine Frau Dr. Flora Hochsinger täglich gegangen ist. Sie hat 1910 an der Universität in Wien promoviert. Sie war die erste Absolventin in Geophysik und Meteorologie. Von Flora Hochsinger selbst existiert kein Foto, aber ein ungewöhnlicher Briefwechsel, der dokumentiert, dass sie bis 1941 versuchte, ein Einreisevisum für die USA zu bekommen“, so Dr. Robert Streibel, Historiker und Direktor der VHS Hietzing. „Nur 19 Überlebende beziehungsweise aus dem Exil Zurückgekehrte haben nach 1945 wieder an den Volkshochschulen unterrichtet. Manche von ihnen, wie etwa der Rechtsanwalt und bedeutende Erwachsenenbildner Wolfgang Speiser, hielten mehr als 100 Vorträge.“
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Gedenktafeln in Ottakring
In der VHS Ottakring wurden am 19. November 2019 zwei Gedenktafeln enthüllt:
Auszeichnung: Ludo-Hartmann-Preis
Christian H. Stifter (Archiv der österreichischen Volkshochschulen) und Robert Streibel (Direktor der VHS Hietzing) wurden am 7. März 2023 im Österreichischen Parlament für ihr Projekt zum Thema "Die Opfer des Nationalsozialismus im Bereich der Wiener Volkshochschulen. Die Volkshochschulen in der Zeit des Nationalsozialismus“ mit dem Ludo-Hartmann-Preis 2022, der vom Verband der Österreichischer Volkshochschulen (VÖV) verliehen wird, ausgezeichnet.
Der Ludo-Hartmann-Preis erinnert an den ehemaligen Nationalversammlungs- und Bundesratsabgeordneten Ludo Moritz Hartmann und dessen Pionierarbeit für die österreichischen Volkshochschulen.
Erste Ergebnisse der Recherchen wurden in der Zeitschrift SPURENSUCHE 2020 publiziert.
Zum Nachlesen:
Artikel „…und mich freudig zum National-Sozialismus bekenne!“. Die Neuordnung der Wiener Volkshochschulen 1938-1945: Gleichschaltung, Programmstruktur, Karrieristen und Täter